Meine Nachbarin Katharina und ich lernten uns – wo sonst? – beim Gassigehen mit den Hunden näher kennen. Der 54-jährige Rechtsanwalt, der bei den letzten Kommunalwahlen ins Gemeindeparlament gewählt wurde, ist einer von denen, denen nichts entgeht, sei es der kleinste Grammatikfehler von uns Einwanderern oder ein schmutziger Gehweg am Fußweg. Einen Teil seiner Energie widmet er seit einigen Monaten auch den Flüchtlingen.
Katharina wuchs an der Elfenbeinküste auf, wo ihr Vater als Deutschlehrer arbeitete. Daher ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass sie afrikanischen Flüchtlingen am meisten hilft, jenen, die in der gegenwärtigen unbekannten Flüchtlingswelle weniger Chancen haben als die Opfer des syrischen Bürgerkriegs. Sie hat Rigoberta aus dem Kongo selbst als Verwaltungsassistentin eingestellt und bezahlt auch einen Kurs in Deutsch und Schnellschreiben, sie hat einer eritreischen Friseurin einen Job in einem örtlichen Friseursalon verschafft und einem anderen Afrikaner einen Job bei einer nahegelegenen Tischlerei. „Ich mag es, wenn Menschen Ziele haben und die Energie, sie zu erreichen“, sagt er. „Ich möchte zur Willkommenskultur beitragen und jemandem eine Chance geben.“
Nicht alle denken so, und als Lokalpolitikerin hat Katharina auch Anrufe von nationalistischeren Lokalpolitikern erhalten, die ihr nahelegten, sie solle sich besser um die Einheimischen kümmern. In unserem Teil Brandenburgs, direkt an der Grenze zu Berlin, gab es keine Gewalt gegen Flüchtlinge, vielleicht auch, weil nach dem Fall der Berliner Mauer eine große Zahl Westdeutscher und ausländischer Bürger hierher eingewandert sind. Nicht ganz Brandenburg ist so gastfreundlich, und in den Nachbarländern Sachsen und Sachsen-Anhalt herrscht noch mehr Feindseligkeit gegenüber neuen Einwanderern. Die Hauptstadt des ersten Bundeslandes, Dresden, ist das Zentrum der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung, und in Magdeburg haben Schläger gerade Flüchtlinge mit Baseballschlägern verprügelt. Selbst viele gemäßigtere Deutsche fürchten, was mit ihrem Land nach der Ankunft von einer Million Flüchtlingen allein in diesem Jahr passieren wird. In vielen Gemeinden fühlen sie sich bedroht durch die scheinbar unaufhaltsame Ankunft der überwiegenden Mehrheit junger Männer sowie Frauen und Kinder mit anderer Kleidung und anderen Gewohnheiten. Sie lesen oft von Familien, die ihre Töchter zum Tode verurteilen, nur weil sie wie ihre deutschen Altersgenossen leben wollen.
Unzählige Deutsche wollen den Flüchtlingen aber trotzdem helfen – und sich vielleicht auch selbst. In einer örtlichen Bäckerei mit Bioprodukten, die Samstag- und Sonntagvormittags ein beliebter Treffpunkt der Bewohner des wohlhabenden Vororts ist, klagte die Verkäuferin am Sonntag, sie habe bis Freitag keinen freien Tag. „Wir finden niemanden, der bereit ist zu arbeiten!“ Junge Leute stehen nicht gerne früh auf, und selbst unter Brandenburgs Arbeitslosen ist das Interesse offenbar nicht groß, obwohl sie mit acht Prozent Arbeitsfähigen gar nicht so wenige sind. Werden wenigstens jene Flüchtlinge einspringen können, die das Asylrecht und damit bald auch das Recht auf Arbeit bekommen? Wer in der Hoffnung auf schnelles Geld und Wohlstand ohne große Anstrengung kommt, wird enttäuscht, Deutschland geht es wirtschaftlich auch deshalb gut, weil seine Menschen bereit sind, hart zu arbeiten. Bei Interesse gibt es aber auch sehr aktive Institutionen, die bei den ersten Ansiedlungen und auch bei der späteren Integration in die rasch alternde deutsche Gesellschaft zu helfen versuchen.
„Der größte Arbeitgeber im Land ist nicht irgendein Autokonzern, sondern der, der Menschen hilft“, warnte der Leiter des Aufnahmezentrums für Flüchtlinge im Sportzentrum neben dem Berliner Olympiastadion, das ich kürzlich mit einer Gruppe von Ausländern besuchte, unzählige Mitarbeiter religiöser oder säkularer philanthropischer Organisationen, die in Berlin Korrespondenten waren. Der 63-jährige Psychologe Friedrich Kiesinger gründete bereits in seiner Studienzeit die erste Organisation zur Unterstützung bedürftiger Menschen, und 1998 gründeten er und seine Frau Andrea auch eine Einrichtung zur Arbeitsvermittlung für psychisch Kranke, Behinderte und alle anderen, die von Arbeitgebern oft abgelehnt werden. Als die aktuelle Flüchtlingskrise komplizierter wurde, bereitete er in Zusammenarbeit mit der Stadt Berlin zwei Hallen des Horst-Korber-Sportzentrums für die Aufnahme von Flüchtlingen vor. Zunächst nahm er selbst einen Kredit bei der Bank auf, doch jetzt erhält er auch Geld von der Stadt, sammelt aber weiterhin Gelder und andere Hilfen nach den Grundsätzen des sozialen Unternehmertums.
Auch Kiesingers Organisation Pegasus nimmt gern Hilfe von Einwanderern an, die sich bereits in die deutsche Gesellschaft integriert haben, genau wie viele andere Institutionen, die helfen wollen. Sie wissen, dass sie die Ärmel hochkrempeln müssen, wenn das gigantische Projekt gelingen soll, vor allem aber dürfen sie die Fehler früherer Einwanderungswellen nicht wiederholen. Insbesondere bei muslimischen Einwanderern, könnte man hinzufügen, denn von italienischen, spanischen, portugiesischen oder griechischen Einwanderern aus der „Gast“-Welle des deutschen Wirtschaftswunders war in der Vergangenheit viel weniger zu hören als von türkischen.
„Ich mache mir Sorgen um Deutschland“, sagte er kürzlich in einer Zeitung Die Welt erklärte auch Cigdem Toprak, eine junge deutsche Journalistin mit türkischen Wurzeln, die am Londoner King’s College Nahoststudien studiert. „Aber ich mache mir auch Sorgen um die Menschen, die ihr Leben riskieren, um hierher zu kommen, weil sie vor Gewalt, Terror und Krieg aus ihren Heimatländern fliehen. Als Gesellschaft werden wir scheitern, wenn wir diese Menschen aufnehmen und sie dann zugrunde gehen lassen.“ Das werde passieren, ist die Tochter von Einwanderern überzeugt, wenn wir schwere Menschenrechtsverletzungen mit Kultur oder Religion rechtfertigen. „Körperliche Gewalt gegen Frauen mit dem Ziel der Kontrolle, Verbote und Bestrafung ist in manchen Gesellschaften normal.“ Aber schon das Bild der 27-jährigen Tochter eines türkischen Gastarbeiters mit langen braunen Haaren und offenem – im wörtlichen und übertragenen – Gesicht, die in den prominentesten deutschen Medien über westliche Werte aufklärt, ist ein Beweis dafür, wie weit die deutsche Gesellschaft im Umgang mit Unterschieden fortgeschritten ist.
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